Wer schaut mich an?
Augen zu und fertig: So einfach ist für kleine Mädchen und Buben Verstecken spielen. Sie können bis zum vierten Lebensjahr nicht unterscheiden zwischen dem, was sie sehen, und dem, was andere Menschen sehen. Sie haben noch keine Vorstellung davon, dass es auf den Blickwinkel ankommt, was man sieht. Es ist nicht so leicht, sich diese Welt zu erobern.
Wenn ich die Augen zumache, sieht mich keiner. Ja, es gibt Momente, da wünschen wir Erwachsene uns das auch. Viel öfter aber möchten wir wirklich gesehen werden, gesehen, wer wir sind, wie wir sind, in der Begegnung mit Freunden und Fremden. Wir möchten nicht schräg angeschaut werden. Wir möchten ganz geradeheraus wahr-genommen werden.
Heute feiern wir den Gottesdienst hier in St. Jakob inmitten von Augen-Bildern. In den Werken von Peter Liebl sind wir frontal mit den dargestellten Personen konfrontiert. Statisch verharren sie im Gegenüber mit eindringlich gemalten Augen, die unseren Blick halten. Aber wer schaut mich an? Bei aller Stilisierung ist auf den ersten Blick klar – es sind Madonnen, Engel, der Gekreuzigte. Oder doch nicht? Sind es Gesichter von Frauen und Männern, denen wir ebenso auf der Straße begegnenkönnten? Dieses Dazwischen fasziniert.
Peter Liebl übersetzt Ikonen, die Kultus- und Heiligenbilder der Ostkirchen, in zeitgenössische Kunst. Ikonen sind nicht Abbildungen weltlicher Natur, sondern vielmehr „Fenster zur himmlischen Wirklichkeit“, Fenster, durch die die Heiligen zur irdischen Realität hereinschauen. Aber auch ein „Fenster“ hinein in eine Welt von Engeln und Heiligen, in eine Welt, in der die Gegenwart Gottes offenbar werden kann. Ein „Fenster“ nicht nur zu Gott, sondern auch von Gott zu uns, die die Ikone
betrachten. Jede Ikone ist die sichtbare Darstellung von etwas, dass nicht mehr als konkrete sichtbare Wirklichkeit existiert.
Der sakrale Inhalt wird in der Ikone durch eine maximale Frontalität betont. Es dominieren die Statik und die Symmetrie. In der Ikone gibt es keine externe Lichtquelle. Das Licht strömt von den Gesichtern, der Kleidung aus, es kommt aus dem Inneren. Anders als auf klassischen Gemälden sind Falten der Gewänder nicht weich und fließend. Man sieht strenge graphische Brüche, die mit den weich gezeichneten Antlitzen kontrastieren.
Peter Liebl öffnet dieses Fenster zur himmlischen Wirklichkeit in seinem ganz eigenen reduzierten und damit so intensiven Stil neu. Alles ist konzentriert auf das Wesentliche. Er stellt individuelle Personen dar und malt sie zweidimensional als Abbild uns vertrauter Menschen der Heilsgeschichte.
Vor 500 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Michelangelo wagt es erstmals, die Heiligen menschlich darzustellen und sagt: „Das Menschliche braucht nicht durch das Göttliche verdeckt zu werden.“ Die Kirchen bleiben zwar noch über lange Zeit Hauptauftraggeber der Kunst, aber sie wird zunehmend eigenständig, auch bei der Darstellung religiöser Motive. Im 19. Jahrhundert räumt der französische Maler Éduard Manet auf mit alten Malgewohnheiten. Er gibt dem einzelnen Ich Raum und
weckt das Interesse für die dargestellten Personen. Frauenbilder werden offenherzig, direkt und selbstbewusst. Sie schauen dem Betrachter ins Auge. Manet zeigt Menschen, eigenständig und verletzlich, nicht in erster Linie eine Inhaberin einer Rolle, sondern ein Individuum. Das irritiert. Aber diese Irritation ist der Anfang davon, den Blick auf den Anderen mit der Frage zu lenken: Wer bist Du eigentlich? Und ebenso die Frage an den Betrachter: Wer bist Du, der mich anschaut?
Manet spielt mit Blicken. Religiöse Bilder, insofern sie Illustrationen von Katechismen waren, zwangen uns lange dazu, etwas Bestimmtes zu sehen. Manet lehrt uns, selber zu schauen! Das Menschliche wird nicht durch ein Göttliches verdeckt. Aber wir lernen in den Menschen fragend, suchend hineinzublicken – und ein Ich zu erahnen, das selber göttlich ist.
Wo war Gott in dieser Woche? Hat Pfarrer Koller im Tagesgebet gefragt. Habe ich ihn gespürt? Im Gesicht der anderen Menschen? In Begegnungen? Der Blick, der im Alltag dieses Göttliche sehen kann – den schenkt uns auch Peter Liebl in seinen Bildern zwischen Körperhaftem, Erdenschwerem und Transzendenz. Es ist der Augenblick dazwischen, die Gegenwart. Und es ist Augen-Blick. Peter Liebl
verweigert in seinen Arbeiten den voyeuristischen Blick von der Seite, wir müssen uns seinen Bildern – gegenüber – stellen. Peter Liebl schafft und schafft es, dass zwischen seinen Madonnen und dem Betrachter eine starke zwischenmenschliche Verbindung entsteht – Blickkontakt mit dem Himmlischen.
In der Schöpfungsgeschichte, in Gen 16,13, nennt Hagar den Namen des Herrn, der ihr die Geburt ihres Sohnes Ismael verheißt: „Du bist El-Roï - Gott schaut auf mich -. Denn sie sagte: Gewiss habe ich dem nachgeschaut, der auf mich schaut!“ El-Roi – Gott, der mich sieht. Eine, wie ich finde, wunderbare Bezeichnung für Gott, für den Gott, der uns mit allem sieht, auch mit unseren Zweifeln und dunklen Seiten. Unter dem liebenden Auge von Jesus konnte Petrus nach seinem Verrat sich selbst wieder in die Augen sehen.
Ich sehe dich! Ist das nicht die schönste Liebeserklärung, die man jemanden machen kann? „Ganz gewiss wohnt die Seele in den Augen“, sagte Plinius, ein römischer Schriftsteller. Die Augen funkeln, strahlen, wenn ich geliebt werde. Ich werde gesehen, so wie ich bin, mit allem, was mich ausmacht. Das heißt aber auch: Wenn du gesehen werden willst, wenn du dich geliebt fühlen willst, musst du dich zeigen.
Ehrlich, echt, offen. Keine Performance. Lass zu, dass dich jemand sehen kann. Ja – verletzlich. Ja – beängstigend. Ja – voller Vertrauen.
Es gibt die schöne Geschichte des heiligen Pfarrers von Ars. Er entdeckt in seiner Kirche einen einfachen Bauersmann, der sich dort oft stundenlang aufhält, ohne Buch oder Rosenkranz in den Händen, aber den Blick unablässig nach vorne, zum Altar gerichtet. Er fragt ihn: „Was tust du denn hier die ganze Zeit über?“ Der Bauer: „Ich schaue Ihn an, und Er schaut mich an. Das ist genug.“ In der Begegnung mit Gott wahrgenommen werden, das ist ein Versprechen unseres Glaubens.
Das Gefühl für unseren Selbstwert beziehen wir viel zu oft aus dem Vergleich mit andern Menschen. Die Bibel aber sagt: Gott sieht dich anders. Alle Menschen, also auch du, haben in Gottes Augen einen unbezahlbaren, unüberbietbaren Wert.
Wer schaut mich an? In Jesaja 43,4 lesen wir die vielleicht verheißungsvollste Aussage Gottes: „Du bist kostbar in meinen Augen und ich liebe dich.” In dieser Gewissheit lohnt es sich, jeden Augenblick ganz gegenwärtig zu leben. Und denken wir auch daran: Manche Menschen wissen gar nicht, wie gut es ist, sie einfach nur zu sehen.
Dr. Maria Baumann