(Auszug aus der Einführung am 8.Mai 2001, Katholische Hochschulgemeinde Regensburg)
„In der Augenzone“ hat der Schriftsteller Patrick Roth seinen Text für das Katalogbuch „Peter Liebl,Bilder. 1979-1999“ überschrieben: ein Prosagedicht über eine Fahrt durch den amerikanischen Westen, mit einem Foto von Peter Liebls „Indianermadonna“ als Reisegefährte. Die Augenzone ist das Energiezentrum in den figuralen Bildern des Künstlers. Unverwandt blicken Liebls Figuren ihre Betrachter an. Mit all dem sich in ihren Augen versammelnden Schrecken, der Trauer, der Empathie und der Leidenschaft scheinen sie einen oft geradezu anzuspringen. Aber gleichzeitig entzieht sich einem ihr Blick auch wieder, als würde er sich durch einen hindurch auf ein Noch-nicht-Geschautes richten. Diese Blicke scheinen sich aus einem unzugänglichen Geheimnis zu speisen,es in sich aufzubewahren.
Eben solche Blicke sind es, die auch im Diptychon „Verkündigung“ das Auge des Betrachters auf sich ziehen, es in einen ausgehaltenen Blickwechsel hineinziehen, der durch die andere Wahrnehmungshaltung, die sich mit der sakralen Umgebung verbindet, nur gewinnen kann.„Verkündigung“ ist sicher ein Bild, das erst in einem sakralen Raum den ihm eigentlich zugehörigen Rezeptionszusammenhang findet.
Man braucht den Titel des Diptychons nicht zu kennen und auch nicht durch den christlichen Sakralraum als Ort der Hängung auf eine Spur gesetzt zu werden: seine Komposition und der Ausdruck der sie beherrschenden beiden Figuren laden das Bild auf mit auratischer und spiritueller Energie, die es langsam, sich nicht erschöpfend, an seine Betrachter abstrahlt.
Mit seinem Titel „Verkündigung“ hat es der Künstler dezidiert in eine lange und reiche Traditiongestellt. Anders als bei den herkömmlichen Verkündigungs-Darstellungen sehen der Engel und Maria einander nicht an. Sie brauchen einander nicht anzusehen, um in Verbindung zu sein. Ihre Kommunikation ist eine geistige. Der dadurch frei gewordene Blick richtet sich unmittelbar, in einer geradezu bedrängenden, unausweichlichen Frontalität an den Betrachter und zieht ihn hinein indas Innere dieser Begegnung von göttlicher und menschlicher Sphäre. Die Modi dieser Begegnung werden nicht nur durch die Zeichnung der Figuren, sondern ebenso durch die Komposition und die Farbpartitur formuliert.
Nähern wir uns dem Bild über die Figuren. Maria sitzt aufrecht, in sich ruhend, würdevoll, als würde sie in ihrer Person das vom Engel verheißene Thronen des Sohnes antizipieren. Marias Augen sind keineswegs demütig niedergeschlagen, sondern blicken offen nach vorne: sehenden Auges will sie die Geschichte Gottes mit den Menschen erleben, die eben einen neuen Anfang genommen hat und in die sie jetzt zuinnerst verstrickt ist. Marias anfängliches Erschrecken, ihre durch den Engel zu zerstreuen gesuchte Furcht, von der die lukanische Verkündigungsszene spricht - sie glühen noch unter Ihren Augen nach, aber sind zugleich bereits in einer großen inneren Sammlung überwunden. Es ist der Moment nach der Verkündigung. Zu sagen gibt es nichts mehr, nachdem das Einverständnis hergestellt ist. Die über dem Schoß gekreuzten Hände sind nicht allein Ausdruck einer Haltung geduldigen Wartens oder auch der meditativen Besinnung, sie sind zugleich bergende und schützende Hände für die Frucht in ihrem Schoß, die der Künstler in dem einer Knospe gleichen Aufspringen des Gewandes als bereits anwesend markiert. Noch ist Maria von mädchenhafter Gestalt, doch mit dem Zitat von Piero della Francescas „Madonna del Parto“,der hochschwangeren Maria, wird bereits auf die Geburt des Erlösers voraus verwiesen. Die ebenerst ergangene Verheißung der Empfängnis wird so mit einem Signet Ihrer Erfüllung beglaubigt. Und aus diesem Vertrauen in die Verheißungstreue ihres Gottes gewinnt Maria ihre Gelassenheit,freilich keine heitere Gelassenheit, sondern eine ernste, um die Schwere ihrer Aufgabe wissende.Peter Liebls Maria hat kurzes, rotes Haar wie viele junge Frauen unserer Tage, sie ist keine ätherische Figur. Den etwas androgynen Zug, der sich mit ihrem Haar verbindet, würde man traditionellerweise eher dem Engel zuordnen. Doch dieser ausgesprochen feminine Engel trägt das dunkle Haar lang und offen. Erwartungen durchkreuzend ist ebenfalls das blendende Weiß von Marias Kleidung. Es läßt zum einen - der dargestellten Szene sich anschließend - an ein bräutliches Gewand denken. Aber dieses Weiß ist eigentlich auch die Farbe des Engels und die österliche Farbe der Auferstehung. Als am Ende des Markusevangeliums die Frauen in das offene Grab treten, sehen sie zur Rechten einen jungen Mann mit einem leuchtend weißen Gewandsitzen, der ihnen die Auferstehung Jesu ansagt. Über die verheißungsgewisse Ansage der Geburtweist so in der Darstellung Marias noch eine Spur weiter hinaus und tiefer hinein in das Christusgeschehen.
Der Engel steht aufrecht, gerade, wie die griechischen Kouroi, die Jünglingsstatuen. Durch die Arme, die wie in einem Bewegungsmoment eingefangen scheinen, gewinnt er zugleich etwas Feierlich-Rituelles, ja sogar Tänzerisches: Als würde er eben in elegantem Schwung die zuvor beider Übermittlung der Botschaft gebreiteten Arme wieder nach unten zusammenführen. Die Füße des Engels vermag der Bildrand nicht mehr zu fassen. Die nach unten parallel geführten Farblinien seines Gewandes könnten so bis ins Unendliche weiterlaufen. Aus dem Unendlichen ragt der Engelins Bild hinein. Das Weiß und der Schnitt des Gewandes, das seinen Oberkörper eng umschließt korrespondiert der Kleidung Marias und der ihm eingeschriebenen lichtvollen Verheißung. In harten Kontrast dagegen gesetzt ist der tief dunkelblau-rote Farbakkord des Rockes. Dieser Farbakkord kehrt in vergrößerter Form in der Übergangszone zwischen den beiden Tafeln des Diptychons wieder. Diese Übergangsszone mit ihren kräftigen vertikalen Farbbändern, die sich in konzentrischer Anordnung um die breite rote Achse legen, schafft eine starke Abschrankung zwischen der himmlischen und der irdischen Sphäre. Gleichzeitig sind diese Sphären durch das erzählte Geschehen aber auch auf unüberbietbare Weise miteinander verbunden, was sich ebenfalls farblich, in der refrainartigen Wiederaufnahme von Farben in der linken und rechten Bildhälfte jenseits der Mittelachse ausdrückt. Nachdem die Farbbänder mehrheitlich auf der Tafel Marias angeordnet sind, rückt Maria auf ihrer Tafel aus der Mitte, wogegen der Engel genau im Zentrum seiner Tafel steht. Maria ist im Zuge der ihr Leben durchkreuzenden Verkündigung dezentriert, aus der Mitte gerückt worden, aber sie hat neu ihre Mitte in sich und in der ‘Frucht ihres Leibes’ gefunden. So ist denn auch der das Bildfeld Marias und ihre Mitte durchkreuzende Balken kein dunkler, sondern ein lichter, sonnendurchglühter.
Farben schreiben eine eigene Sprache und sind in der christlichen Tradition stark semantisiert -angefangen mit den biblischen Texten bis hinein in die Liturgie. Das Rot der Mittelachse erinnert Blut und - gelesen im Horizont jener Geschichte, die mit der Verkündigung beginnt - erinnert das Opfer Jesu Christi am Kreuz. Das Kreuz ist aber auch ein Lebensbaum. Leben und Leiden schießen im Rot, im Blut zusammen. Dieses Rot wird auf dem Bild umfangen von dunklen Farben,wie von den Mächten der Finsternis. Doch diese Klammer wird nochmals überwunden durch das Licht der Bänder in österlichem Weiß. Vielleicht also kann man diese markante, mehrfach gegliederte Mittelachse lesen als abstrakte Verdichtung der Erzählung von demjenigen, der aus der im Bild erzählten Kommunikation der Sphären hervorgeht, der an beiden Sphären Anteil hat: Jesus Christus. Anders gesagt: Über die Farbakkorde ist der verheißene Erlöser bereits unsichtbar gegenwärtig gemacht.
Der Farbakkord der Mittelachse ist eingebettet in das warme, tiefe Blau eines nächtlichen Himmels und vor dessen Ewigkeit und Unendlichkeit gestellt. Am linken und rechten Rand des Diptychons wird dieses Blau nochmals umfangen und gestimmt von einem intensiven Rot, das auf seiten des Engels - in einer Referenz an Barnett Newman - durch ein dazwischen gesetztes gelbes Band mit lebensvoller Wärme aufgeladen wird.In Abschattierungen grundiert dieses durch die roten Randzonen erwärmte Blau das Feld, vor dem der Engel steht und vor dem sich hoch und weit, geradezu schmetterlingsartig seine bunt schillern-den, heiteren, so das Frohe der Botschaft aufnehmenden Flügel entfalten. Und dieses Blau grundiert ebenso den Bildraum Marias, wobei wiederum hellere, fröhlichere Farbfelder über ihn gelegt sind: Orange, Gelb und ein lichtes Grün - südliche, mediterrane, energiereiche Farben, die sich zu einer Zone lebensvollen Aufbruchs verschränken. Das in der Achse, den Spitzen und Ende der Flügel akzentuierte Maiengrün umfließt Maria: die Farbe des Lebens und als solche die Farbe des ins Leben rufenden Geistes, von dem der Engel eben zu Maria gesprochen hat und an den Maria glaubt.